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Hannah Arendt hat darauf hingewiesen, dass jede Ideologie zu einem totalitaristischen Regime führen kann. Simon Hegelich und Habiba Sarhan vom Münchener Teilprojekt glauben, dass wir derzeit den Aufstieg einer Ideologie erleben, die sie Nutzerismus nennen. Sie sehen Anzeichen, dass in ihm ein totalitaristisches Potenzial steckt.

Was ist der Nutzerismus?

Wie bei jeder Ideologie ist der Kerngedanke sehr einfach: Im Prinzip gibt es für alle gesellschaftlichen Probleme eine technische Lösung. Leider wenden die Menschen die richtigen Technologien nicht an. Sie nehmen ihre Rolle als Nutzer nicht wahr. Es geht also um das Zusammenspiel von Mensch und Technik, allerdings immer wieder aus der gleichen Perspektive. Die Technik kommt vor als potentielle Lösung eines gesellschaftlichen Problems. Eventuell fehlt die perfekte Lösung noch, aber das ist dann als Auftrag an die Wissenschaft und die Ingenieure zu verstehen. Dieser Technikglaube hat etwas sehr Naives. Er abstrahiert zum Beispiel von allen Interessen, für die Technologien tatsächlich entwickelt werden, als wäre Technik etwas neutrales, was einfach nur für die richtigen Zwecke angewandt werden müsste. Diese Naivität erinnert an spezielle sozialistische Überlegungen, die davon ausgingen, es wäre völlig ausreichend, wenn die Produktionsmittel in der Hand der Arbeiterklasse wären – als wäre der ökonomische Zweck der Profitmaximierung nicht in den Maschinen selbst manifestiert, die den Arbeiter zu einem Anhängsel machen.[1] Erst diese behauptete Wertfreiheit der Technologie erlaubt den Zusammenschluss mit den “gesellschaftlichen Problemen”. Auch hier wird einfach naiv davon ausgegangen, dass die entsprechenden Missstände wertfrei seien und die Gesellschaft egalitär betreffen, beziehungsweise gleich Herausforderungen der Menschheit seien, also entweder auf ein unreflektiertes “Wir-alle” (wer das auch immer sein mag) zielen, oder sogar auf die Gattung als höchste Abstraktion. Die Ideologie des Nutzerismus besagt nun, dass sich diese Probleme durch das Zusammenkommen von Gesellschaft und Technik lösen. Das Individuum kommt dabei nur als kleinste Einheit des gesellschaftlichem Konglomerats vor. Einerseits gehen alle individuellen Interessen im gesellschaftlichen Ganzen auf, andererseits muss sich das Individuum dem gesellschaftlichen Problemdruck stellen und die technische Lösung selbst anwenden: Es muss Nutzer werden. Nur als menschliches Anhängsel der Technologie erfüllt das Individuum seinen gesellschaftlichen Auftrag. Dann aber mit dem Versprechen, dass dies ein Beitrag zur Gesellschaft und damit auch eine Übereinstimmung mit den (wohlverstandenen) Eigeninteressen sei. Dieses problematische Spannungsverhältnis von Kollektiv und Individuum bestimmt dann den politischen Auftrag: Die Menschen müssen zu Nutzern gemacht werden, durch Anreize, Überzeugung, Überredung oder letzten Endes durch überlegene Gewalt.

Beispiele des Nutzerismus

Die Entstehung des Nutzerismus ist eng mit der Debatte um den Klimawandel verwoben. Während die Umweltbewegung – wie zum Beispiel an den frühen Grünen in Deutschland zu studieren – zunächst darauf bestand, dass die herrschenden Zwecke mit einer Vernichtung der natürlichen Lebensgrundlage einhergehen, gab es einen Umschwung – vermutlich auch aus Resignation heraus – hin zu der Vorstellung, dass, wenn man schon das System als Ganzes nicht ändern kann, man doch wenigstens im Kleinen etwas verändern könnte. Konsumverzicht, bewusster Lebensstil, Veganismus und Fairtrade wurden individuelle Waffen gegen die Zerstörung des Globus. Spätestens mit der Fridays for Future Bewegung hat sich hier erneut Resignation eingestellt: Das Wirken im Kleinen erscheint als unzureichend, um der gesellschaftlichen Problematik gerecht zu werden. Und hier greift der Nutzerismus: Die technische Lösung ist doch eigentlich da (zum Beispiel in Form von erneuerbaren Energien), die Politik hat es nur versäumt, die Gesellschaft in ein Kollektiv von Nutzern zu verwandeln und der Appell richtet sich nun ganz klar an die „Mächtigen“, ihren Job gefälligst zu machen („How dare you!“).[2] Jetzt gilt es, die richtigen Anreize zu setzen, fossile Energie staatlich zu verteuern, gute Technik zu fördern oder auch den Einsatz der falschen Technik einfach zu verbieten (wie beim Verbrennungsmotor). Als Nutzer von grüner Technologie werden wir nicht nur den Globus retten, sondern auch Weltmarktführer im Bereich der Green Economy, was ein schlagkräftiges Beispiel dafür ist, dass es Konflikte im Sinne von sich widersprechenden Interessen in der Gesellschaft des Nutzerismus nicht gibt.

Zur ungeahnten Bedeutungsschwere ist der Nutzerismus in der Covid-Krise aufgestiegen. Gerade in Deutschland wurden fast alle Aspekte der Pandemie als technische Probleme mit passenden Lösungen und – zum Teil unwilligen – Nutzern behandelt. Ein Test, der ein Virus, keine Erkrankung nachweist und ohne ein Wissen über die Prävalenz nicht interpretiert werden kann wird durch Subventionen und Zwangsverordnungen gepusht, bis eine Gesellschaft von Testnutzern entsteht. Die Impfung wurde als Lösung aller Probleme verkauft (Merkel: „Die Pandemie endet wenn wir einen Impfstoff haben.“) und die Nicht-Nutzer zum Problem erklärt, in dem man die Pandemie (oder sogar die Tyrannei) der Ungeimpften ausrief. Masken, die den Einzelnen offenbar nicht zuverlässig schützen, sind staatlich verordnet die technische Lösung, die die Probleme löst, wenn nur alle Nutzer sorgfältig damit umgehen. Eine App, die technisch gesehen nicht funktionieren kann, weil Near-Field-Bluetooth nicht geeignet ist, um Virusübertragungswege zu erfassen, wird zur technischen Eintrittskarte für das gesellschaftliche Leben.

Nicht vergessen sollte man, dass die Tech-Konzerne des Silicon-Valley den Nutzerismus verkörpern und groß gemacht haben. Twitter, Facebook, Google und so weiter, gehen alle davon aus, dass sie Technologie entwickeln, welche die Menschheit unterstützen, die Welt besser machen, die Menschen vernetzen etc. Hier fällt das Bereitstellen der Technologie in eins mit den Profitinteressen der Plattformökonomie. Als Bereitsteller der Technologie fällt es den Tech-Konzernen zu, den Zugang auch wieder zu verwehren. Damit können Nutzer ausgeschlossen werden, die die Technologie missbräuchlich, also nicht im Sinne der Lösung der gesellschaftlichen Probleme, verwenden. Es ist unstrittig, dass noch nie so viele Nutzer temporär oder Dauerhaft von Twitter und Facebook verbannt wurden, wie im Zuge der Covid-Pandemie.


[1]Marx hatte diesen naiven Technikglauben bei einigen Sozialisten bereits kritisiert und widmet im „Kapital“ ein ganzes Kapitel dem Arbeits- und Verwertungsprozess, um aufzuzeigen, dass die kapitalistische Technik eben nicht einfach nur eine Steigerung der Produktivität bedeutet, sondern die Unterordnung des Arbeiters materialisiert.

[2]Natürlich gibt es in der Umweltbewegung nach wie vor viele Strömungen, die diesen Kurzschluss von Individuum, Gesellschaft und Technik nicht mitmachen. Von einigen wird nach wie vor das Wirtschaftssystem als Ursache gesehen, andere vertrauen der Technik nicht im Sinne des Nutzerismus und vertreten eher eine Perspektive der Deindustrialisierung durch persönlichen Verzicht. Interessant ist aber schon, dass die Nutzeristen in der Klimabewegung hörbarer werden, vielleicht auch, weil ihre Ideologie auf Resonanz bei Politik und Medien stößt. Der Nutzerismus ist auch wesentlich unkritischer gegen Versuche des „Green-Washings“ (also der bloß taktischen Übernahme bestimmter Techniken) als es die klassische Umweltbewegung ist: Immerhin lassen sich die entsprechenden Unternehmen auf die neue Technik ein, auch wenn sie ihre Rolle als Nutzer noch nicht vollständig akzeptieren.

Simon Hegelich

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