Verschwörungstheorien dienen dazu, Krisen zu inszenieren, Misstrauen zu schüren und Feindbilder zu schaffen. Sie zeichnen Freund-Feindbilder, die mit Vorurteilen und Stereotypen aufgeladen werden, um politische Gegner und deren Anhängerschaft zu delegitimieren und zu diskreditieren. Verschwörungstheorien um einen vermeintlich „tiefen Staat“ und den „großen Austausch“ gehören schon länger zum rhetorischen Repertoire von Rechtspopulisten, genauso wie wiederkehrende antisemitische Narrative rund um (satanische) Ritualmordlegenden. Verschwörungserzählungen und darin enthaltene Narrative reichen fast tausend Jahre zurück und werfen die Frage auf, wie sie über die Jahrhunderte hinweg in unser kollektives Wissen eindringen konnten. Um der Verlockung von Verschwörungstheorien wirksam entgegenzuwirken, ist es entscheidend, ihre zugrunde liegende Logik sowie die gesellschaftlichen Mechanismen, die ihre Verbreitung begünstigen, zu verstehen.
Diesem Ziel folgend haben wir zehn historische Manuskripte, Bücher, Dokumente, ein terroristisches Manifest sowie ein Video kodiert und ausgewertet. Über 800 Textfragmente wurden in drei Hauptkategorien mit insgesamt 85 Unterkategorien eingeordnet. Ein Schwerpunkt der Analyse lag auf historischen Fällen. So wurde beispielsweise die erste dokumentierte Blutbeschuldigung gegen William of Norwich im Jahr 1150 untersucht, die im Buch „Life and Passion of William of Norwich“ festgehalten ist. Auch die Hexenverfolgungen der frühen Neuzeit standen im Fokus, basierend auf Schlüsseltexten wie dem „Hexenhammer“ (Malleus Maleficarum, 1487) und der päpstlichen Bulle „Summis desiderantes affectibus“ von Papst Innozenz VIII aus dem Jahr 1484.
Ein weiterer zentraler Bereich der Analyse war die Freimaurerfeindlichkeit. Hierbei wurden Schriften wie die Enzyklika „Humanum Genus“ (1884) von Papst Leo XIII, das Buch „Die Drei-Punkte-Brüder“ (1887) von Leo Taxil sowie Friedrich Wichtls „Weltfreimaurerei, Weltrevolution, Weltrepublik“ (1919) einbezogen, das Einblicke in die antisemitischen und antifreimaurerischen Narrative der deutschen Nationalsozialisten gibt. Zeitgenössische Hassnarrative wurden ebenfalls berücksichtigt. So enthält das Manifest „An Open Letter“ (2019) des rechtsextremen Terroristen des Anschlags in Poway, Kalifornien, veröffentlicht auf der Plattform 8chan, rassistische und antisemitische Verschwörungstheorien, wie auch das Video „My personal message to all Americans“ des Attentäters von Hanau 2020, das er kurz vor seinem Anschlag auf YouTube veröffentlichte.
Die Analyse identifizierte zwei inhaltliche Hauptnarrative, die stets zusammen auftauchten, sowie drei zentrale kontextuelle Faktoren, die die Verbreitung von Verschwörungstheorien und Mobilisierungsstrategien beeinflussen können: den aktuellen Kontext (insbesondere während Krisen), den Einfluss zentraler Personen (die Überbringer der Botschaft) und die Rolle der (neuer) Kommunikationskanäle (das Medium). Die analysierten Dokumente zeigen, wie inhaltliche Erzählungen über Jahrhunderte hinweg entstehen und sich weiterentwickeln. Sie verdeutlichen sowohl religiöse als auch politische Motive und bieten Einblicke in die Dynamik von Feindbildern und deren Mobilisierung. Die Verbindung historischer und aktueller Texte ermöglicht eine umfassende Perspektive auf die Kontinuität und den Wandel dieser Narrative.
Historische Narrative im aktuellen Kontext
In aktuellen Verschwörungstheorien tauchen altbekannte Narrative wie der Kindermord und satanistische Rituale erneut auf. Diese Erzählungen sind keineswegs neu, sondern bedienen sich bereits etablierter, oft wiederverwendeter Motive. Ein zentrales Narrativ ist die Erzählung vom drohenden Umsturz der politischen oder religiösen Ordnung. Diese Bedrohung der bestehenden Ordnung zeigt sich in verschiedenen Formen: Im Fall von Antijudaismus tritt sie als Antichristentum auf (z. B. in Ritualmordlegenden und Hexenverfolgungen), während sie sich in anderen Kontexten gegen die Monarchie, soziale Normen (Freimaurer) oder in extrem rechten Ideologien gegen die Vorstellung eines „weißen Genozids“ richtet, wobei Politiker:innen und Medien Komplizenschaft vorgeworfen wird. Diese übergreifende Erzählung wird durch Teilnarrative ergänzt, die den Verlust von Privilegien, Sicherheit und Moral thematisieren. Frühe Mobilisierungen gegen jüdische Gemeinden stellten Juden und Jüdinnen als Gegner:innen des Christentums dar, wobei die Ritualmordlegende ein herausragendes Beispiel dafür ist, wie vermeintliche Gewalt von Juden und Jüdinnen als kollektive Bedrohung dargestellt wurde. Das zweite Hauptnarrativ ist die Bedrohung des Lebens. Dieses Narrativ der propagierten Lebensgefahr ist in allen Mobilisierungsstrategien allgegenwärtig und tritt in unterschiedlichen Formen auf. Es stützt sich auf Untererzählungen, wie etwa der Gefahr für Gesundheit, Fortpflanzung und Existenzgrundlagen. In frühen Diffamierungskampagnen gegen Juden und Jüdinnen und vermeintliche Hexen steht die Bedrohung des Lebens besonders im Mittelpunkt.
So lässt sich beispielsweise die Ritualmordlegende bis ins Mittelalter im 12. Jahrhundert zurückverfolgen und setzte sich später in der Hexenverfolgung fort, wo Frauen oft beschuldigt wurden, Kinder zu töten und zu entführen. Historische Quellen wie im Malleus Maleficarum, einem einflussreichen Werk der europäischen Hexenverfolgung aus dem Jahr 1487, legen dar, wie Frauen als vermeintliche Hexen eine ernsthafte Bedrohung für die Kirche und den christlichen Glauben darstellen. Auch in den Erzählungen der Ritualmordlegende wurde versucht, die Ermordung christlicher Kinder nicht als Einzelfall, sondern als systematisches Vorgehen der Juden und Jüdinnen darzustellen. Die Anschuldigung, in Kindermord und Satanismus verwickelt zu sein, ist eine Fremdzuschreibung und ein polemischer Begriff, der gezielt dazu dient, bestimmte Individuen oder Gruppen zu dämonisieren. Diese Entmenschlichung wird besonders verschärft, wenn Personen oder Gruppen mit Tieren verglichen werden, die negative Assoziationen wecken, wie etwa Schlangen, Ratten oder Wölfe, mit Krankheiten wie der Pest gleichzusetzen. Schon im 19. Jahrhundert wurden Freimaurer von Gegnern als „blutsaugende, lichtscheue Sekte“ und „allesfressende, parasitäre Pflanze“ bezeichnet.
Im Laufe der Zeit wurde die Anschuldigung des Kindermordes zu einem zentralen Element der Verleumdung gegen jüdische Gemeinden und entwickelte sich zu einer bedeutenden Waffe des Antisemitismus. Der 19-jährige Attentäter, der im Jahr 2019 in Poway, Kalifornien, eine Synagoge angriff und einen Menschen erschoss, spielte in seinem „offenen Brief“ auf den berüchtigten Ritualmordvorwurf im Fall Simon von Trient an. Der Täter beschuldigt Juden und Jüdinnen, unvorstellbare Grausamkeiten an „unzähligen Kindern“ zu verüben, und bezeichnet Simon von Trient als Märtyrer, der „niemals vergessen werden wird.“ Das „Manifest“ behauptet, dass Juden und Jüdinnen als einheitliche, kollektive Gruppe handeln („Sie agieren als Einheit“), um die Bedrohung noch größer und strategisch orchestriert erscheinen zu lassen. Ähnlich sprach der Terrorist von Hanau, der in einem seiner Videos auf die Erzählung von Kindesmissbrauch Bezug nahm. Darin sprach er von einer vermeintlichen Machtübernahme durch unsichtbare Geheimgesellschaften und unterirdische Militärbasen, in denen der Teufel angeblich verehrt und Kinder missbraucht, gefoltert und getötet werden.
Hinter diesen wiederkehrenden Vorstellungen von Blut, Kindermord und rituellen Opfern steht jedoch eine tiefere symbolische Bedeutung: Sie suggeriert, dass eine bestimmte Gruppe eine Bedrohung für das Leben, die Gesundheit, den Fortbestand der Familie, die Existenz und letztlich das Überleben darstellt. Dieses Narrativ der existenziellen Bedrohung ist jedoch nur eines von mehreren, die über die Jahrhunderte hinweg wiederholt auftauchen. Es wird häufig von einem weiteren begleitet: der Vorstellung, dass bestimmte Außengruppen die bestehende politische, religiöse und moralische Ordnung stürzen wollen, um eine neue Herrschaft zu etablieren.
Die Rolle von Krisensituationen
Zusätzlich zu den inhaltlichen Erzählkomponenten fällt auf, dass die in dieser untersuchten Mobilisierungen zu bestimmten Zeitpunkten stattfanden und zwar in Momenten, wie etwa in eine Krisensituation, die durch schwer erklärbare Ereignisse wie Krankheiten, politische Umbrüche, unerklärliche Todesfälle oder Naturkatastrophen geprägt ist. Verschwörungstheorien erfüllen sozialpsychologische Funktionen und erfüllen emotionale Grundfragen, wie die Vermittlung des Gefühls der Kontrolle, Sicherheit, Verstehen und Handlungsfähigkeit. Beispielsweise liegt die Zeit der Hexenverfolgung in einer Periode einer klimatischen Verschlechterung, die als Kleine Eiszeit bekannt ist und von der Mitte des 15. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts dauerte. Die Abkühlung des Klimas führte zu langen, kalten Wintern und regenreichen Sommern, was zu Ernteausfällen und Lebensmittelknappheit führte. Gleichzeitig nahm die Bevölkerung zu, was Hunger und Armut verschärfte. Krankheiten wie die Pest breiteten sich aus. Unzählige Frauen wurden der Hexerei angeklagt, da sie angeblich durch ihren Schadenszauber Blitze und Hagelstürme heraufbeschwören, Mensch und Tier unfruchtbar machen und zu töten.
Erfolgreiche Kommunikationsstrategien
Erfolgreiche Kommunikationsstrategien sind ein Schlüsselelement historischer Mobilisierungskampagnen und Verschwörungstheorien. Eine weitere zentrale Rolle spielt die Vermittlung der Inhalte durch (neue) Medien, wie etwa der Buchdruck zur Zeit der Hexenverbrennungen oder soziale Medien in der heutigen Zeit.
Im Fall der Ritualmordlegende von Simon von Trient im Jahr 1475 setzte Bischof Hinderbach eine „ausgeklügelte multimediale Propagandakampagne (…) ein, die die neue Drucktechnologie nutzte, um die Geschichte weit und breit zu verbreiten“ (Teter 2020, 378). Der Buchdruck ermöglichte nicht nur eine schnelle Erreichung eines breiten Publikums, sondern verlieh auch den bis dahin mündlich verbreiteten Legenden den Anschein, dass sie tatsächlich stattgefunden hatten. Die Tatsache, dass etwas in einem autoritativ wirkenden Medium wie einem Buch niedergeschrieben wurde, unterstrich die vermeintliche Wahrhaftigkeit. Der Buchdruck erweiterte nicht nur das Publikum, sondern setzte auf überzeugend wirkende Sprache und wirkmächtige Zeichnungen, die angebliche Fakten unterstrichen (Teter 2020).
Aus der Geschichte lernen, für die Zukunft planen
Verschwörungstheorien mobilisieren durch Angst – eine der stärksten Emotionen – und bleiben dadurch dauerhaft wirksam, auch wenn sich ihre Inhalte und Verbreitungsmechanismen an neue Technologien und Umstände anpassen. Entscheidend ist nicht nur der Inhalt, sondern vor allem die emotionale Wirkung, die gezielt eingesetzt wird, um kollektive Reaktionen hervorzurufen. Diese Dynamik zeigt die Dringlichkeit, Mechanismen der Angstmobilisierung zu erkennen und einer Instrumentalisierung menschlicher Emotionen entgegenzuwirken. Um dem entgegenzuwirken, braucht es eine umfassende Strategie, die technologische, mediale und soziale Aspekte einbezieht. Neben gestärkter Medienkompetenz und Zivilcourage ist ein wachsendes emotionales und soziales Bewusstsein essentiell, um Verschwörungstheorien zu erkennen und ihnen entgegenzutreten. Nur durch ein gemeinsames gesellschaftliches Engagement können wir den Herausforderungen einer digitalisierten und von Unsicherheiten geprägten Welt begegnen.
Weiterreichende Publikationen der Forschungsergebnisse zu diesem Thema sind in Erscheinung und können demnächst auf der www.ifsh.de gefunden werden.
Zitierte Literatur:
Teter, Magda. 2020. Blood Libel: On the Trail of an Antisemitic Myth. Cambridge, Massachusetts ; London, England: Harvard University Press.