Wie sich digitale Plattformen zum russischen Angriffskrieg in der Ukraine verhalten
Der russische Angriffskrieg verändert die Tech-Welt und die Frage wie Informationen geordnet werden. Während die Tech-Unternehmen lange Zeit das Narrativ vertraten, lediglich eine neutrale Technologie zur Verfügung zu stellen, treffen sie heute werteorientierte Entscheidungen und setzen Maßnahmen um, die auch auf den Kriegsinformationsfluss einwirken. Maik Fielitz und Marcel Jaspert beschreiben inhärente Dilemmata für die Gestaltung globaler Kommunikationsräume.
Der Krieg in der Ukraine ist ein Krieg der Bilder und Emotionen, die besonders über soziale Medien verbreitet werden. In bisher ungekanntem Maße müssen Tech-Unternehmen eine Flut von Informationen auf ihren Plattformen (ein)ordnen und moderieren sowie (wenn nötig) als Desinformation markieren und löschen. Auf ihnen lastet zudem ein politischer und moralischer Druck, russischer Kriegspropaganda keinen Raum zu geben und die ukrainische Bevölkerung zu unterstützen. Die Wirkung des Handelns der Tech-Unternehmen geht dabei notwendigerweise über die konkreten Kriegsparteien hinaus und zeigt einmal mehr die Relevanz von Plattformen für demokratische Gesellschaften: Welche Informationen wie eingeordnet werden, kann Einfluss darauf nehmen, welche Argumente und Narrative Anklang finden und inwiefern sich solidarische und regressive Bewegungen über die Plattformen organisieren.
Mit dem Beginn des russischen Angriffskrieges wurden Plattformen wie Twitter, Instagram, Facebook, Telegram oder TikTok – allein schon durch die strategische Nutzung von Kriegsbeteiligten – selbst zu Konfliktparteien. Die Plattformen sahen sich dazu gezwungen, sich aktiv zum Krieg zu verhalten. Während ihre Betreiber*innen jahrelang das Narrativ vertraten, dass sie lediglich neutrale Technologien anbieten, um den freien Austausch von Informationen zu ermöglichen, wurde im Zuge des Angriffskrieges ein Paradigmenwechsel in der Plattformpolitik von Tech-Unternehmen sichtbar. Vor allem zur Eindämmung von Desinformation und zur Begegnung russischer Kriegspropaganda beschlossen sie neue Maßnahmen, die sich als wertorientiert einordnen lassen und somit das Narrativ der Neutralität konterkarieren.
Obwohl der Krieg in der Ukraine bei Weitem nicht der erste ist, bei dem die Mediatisierung des Kriegsgeschehens über soziale Medien eine wichtige Rolle spielt, ist das Ausmaß der aktuellen Regelanpassungen präzedenzlos. Denn in diesem Krieg werden Maßnahmen durchgesetzt, die dauerhaft die Funktionsweisen privatwirtschaftlicher Kommunikationsräume beeinflussen. Das kann ebenfalls Auswirkungen auf demokratische Diskurse und liberale Demokratien haben. Dieser Beitrag möchte in zwei Schritten aufzeigen, welche Maßnahmen der (Selbst-) Regulation getroffen wurden und welche größeren Dilemmata und Sachzwänge der Plattformpolitik diese Maßnahmen zutage fördern.
Maßnahmen digitaler Plattformen als Reaktion auf den russischen Angriffskrieg
Bei der Betrachtung der Maßnahmen, die seit dem russischen Angriffskrieg von den Tech-Unternehmen umgesetzt wurden, sind zuallererst Sicherheitsmaßnahmen vor allem für ukrainische Nutzer*innen auszumachen. Zum Beispiel schaltete Facebook wenige Stunden nach der russischen Invasion ein Sicherheitstool frei, mit dem sich ukrainische Nutzer*innen vor nicht befreundeten Personen unsichtbar machen konnten. Instagram machte es zudem möglich, dass sowohl in der Ukraine als auch in Russland eine Verschlüsselung von Direktnachrichten möglich wurde. Auch Twitter wurde gleich zu Beginn des Krieges tätig und klärte ukrainische Plattformnutzer*innen darüber auf, wie diese ihr Twitter-Profil besser sichern können. Zwei weitere Beispiele für Sicherheitsmaßnahmen beziehen sich auf den Kartendienst Google Maps, der die Echtzeitverkehrsdaten in der Ukraine einschränkte und die Google-Rezensionen entfernte, damit Orts-, Foto- und Videodaten, ebenso wie Geschäftsinformationen, nicht für die Kriegsplanung genutzt werden können.
Weitere Maßnahmen umfassen die Markierung von Inhalten und die Deamplifizierung von Posts und Profilen. Im Zuge der Markierung von Inhalten unterziehen beispielsweise Facebook und Instagram inzwischen alle kriegsrelevanten Informationen einem Faktencheck durch unabhängige Medienorganisationen und kennzeichnen Posts und Profile, die Desinformationen verbreiten, mit einem entsprechenden Hinweis. Die Maßnahme der Markierung ist nicht unbedingt neu. Sie wurde bereits im Rahmen von Wahlkämpfen und der Corona-Pandemie stichprobenartig genutzt. Auch die Plattform Reddit markiert Beiträge auf ähnliche Weise und versetzt ganze Unterforen in eine Quarantäne, wenn diese mit falschen Informationen aufgefallen sind. Mit Deamplifizierung ist die Einschränkung der Reichweite von einzelnen Posts und ganzen Profilen gemeint. Zum Beispiel hat Instagram die russischen Staatsmedien weltweit in ihren Feeds drastisch in der Priorität heruntergestuft (in Europa sind die russischen Staatsmedien komplett eingeschränkt). Auch die Suchmaschine DuckDuckGo reduziert aktiv die Reichweite von russischen Websites, die mit Desinformationen in Verbindung gebracht werden. Noch weiter darüber hinaus geht die Abschaltung von Accounts. Im Zuge der Sanktionen der Europäischen Union gegen Russland wurde die Verbreitung der russischen Staatsmedien Russia Today und Sputnik über Plattformen, die in Europa tätig sind, verboten. Darauf reagierten alle großen Plattformen wie Facebook, YouTube, Twitter, TikTok und Telegram mit der Löschung der jeweiligen Profile. Apple hat den Download der russischen Staatsmedien in seinem AppStore sogar weltweit, überall außerhalb Russlands, abgeschaltet.
Die Reaktion auf den Angriffskrieg schien zunächst einem gesellschaftlichen Konsens zu folgen, wonach soziale Medien nicht genutzt werden konnten, um pro-russische Beiträge eine Plattform für Kriegspropaganda zu bieten. Dies war durchaus im Sinne von Werbetreibenden, die nicht mit Kreml-Propaganda Geld verdienen wollten und Einbußen hinnahmen, um ein politisches Zeichen zu setzen. Auch sprachen sich Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International dafür aus, dass die Aufmerksamkeit auf das Leid der ukrainischen Zivilgesellschaft gelenkt und die Verbreitung von Desinformation einschränkt werden sollte. Allerdings ist es schwer, einen kohärenten Umgang mit Kreml-nahen Informationen jenseits der staatlichen Propagandakanäle zu finden. Das würde ein präventives Screening von Kommunikation erfordern, das dem Prinzip sozialer Medien zuwiderläuft.
Im Zeitalter multipler Krisen kommt die stete Neuausrichtung der eigenen Richtlinien kaum hinter der sich wandelnden Realität hinterher.
Das Geschäftsmodell, wonach zunächst Informationen ohne editorische Prüfung veröffentlicht werden und erst in einem zweiten Schritt moderiert, eingeschränkt oder gelöscht werden, verlangt nach einer Rechtfertigung. Aus welchem Grund verstoßen Inhalte, die zuvor unbedenklich waren, plötzlich gegen die Regeln der Plattformen? Warum wird ein unterschiedliches Maß angelegt bei Nutzer*innen mit kleiner und großer Reichweite? Im Zeitalter multipler Krisen kommt die stete Neuausrichtung der eigenen Richtlinien kaum hinter der sich wandelnden Realität hinterher. Zugleich ist die Tragweite der Änderungen schwer abzuschätzen. Maßnahmen, die für den Krieg in der Ukraine gelten, müssten nun auch in anderen Konflikten zum Tragen kommen. Ob dies beispielsweise im Kontext bewaffneter Konflikte wie im Jemen geschieht, die nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit westlicher Medien stehen, ist fraglich. Schließlich erfordert es sprachliche und politisch-kulturelle Kompetenzen in der Einschätzung von Konflikten und ungemeine Ressourcen, Maßnahmen regional zu ergreifen und umzusetzen.
Indem Plattformen gesellschaftliche Verantwortung für die Kuration und Moderation von Informationen in Kriegen übernehmen, müssten sie nun ähnliche editorische Standards entwickeln wie die herkömmlichen Medien. Die Einführung solch inhaltlicher Qualitätskontrollen wäre ein Eingeständnis, das den gesetzlichen Sonderstatus als Intermediäre obsolet macht. Denn wenn soziale Medien nicht mehr nur Inhalte zwischen Produzent*innen und Konsument*innen vermitteln, sondern sie nach ähnlichen Prinzipien wie herkömmliche Medien begutachten, müssten sie sich denselben presserechtlichen Standards unterziehen. Das würde das Ende sozialer Medien bedeuten, wie wir sie kennen.
Denn wenn soziale Medien nicht mehr Inhalte nach ähnlichen Prinzipien wie herkömmliche Medien begutachten, müssten sie sich denselben presserechtlichen Standards unterziehen. Das würde das Ende sozialer Medien bedeuten, wie wir sie kennen.
Ausblick
Die skizzierten Dilemmata zeigen: Tech-Unternehmen agieren in Kontexten, in denen sie widersprüchliche Interessen zur Ausgestaltung der Plattformpolitik berücksichtigen müssen: Investor*innen wollen Wachstum, Werbetreibende freien Zugang zu Kund*innen, die Politik verlangt nach mehr Verantwortung und die ‚Community‘ eine Demokratisierung der Plattformen. In der Kriegssituation schien es plötzlich möglich, diese Interessen in Einklang zu bringen, weil sich klare Linien zwischen der Stärkung demokratischer Strukturen und der Eingrenzung pro-russischer Propaganda bildeten, welche die Differenzen zwischen den beteiligten Gruppen in den Hintergrund stellten. Tech-Unternehmen nutzen dieses Fenster, um ihre Position in der Gestaltung öffentlicher Diskurse auszuweiten und verlorenes Vertrauen wiederzugewinnen.
Allerdings stellt sich die Frage, welche Maßnahmen zurückgenommen werden, wenn die Krisensituation wieder abflacht – und ob die jüngsten Anpassungen auch in anderen militärischen Konflikten Anwendung finden. Letzteres würde implizieren, dass Plattformen sich permanent zu Konfliktparteien entwickeln, deren Positionierung einen nicht unerheblichen Einfluss auf Konfliktkonstellationen hat. Solang Plattformen keiner demokratischen Kontrolle unterliegen, kann dies auf kurz oder lang nicht im Sinne einer offenen Gesellschaft sein. Für die Zivilgesellschaft ist es daher unerlässlich, eine gesetzlich verbriefte Teilhabe an der Gestaltung digitaler Räume einzufordern, die Transparenz in Krisensituationen und die Beteiligung an der Setzung neuer Maßnahmen umfasst.
Dieser Beitrag entstand als Kurzanalyse für das Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft. Der Originaltext ist hier abrufbar.
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