Verschwörungstheorien sind nur so populär, wie sie sich verbreiten. Doch wie können wir gesicherte Kenntnisse über Reichweite von Verschwörungstheorien erlangen? In einem Fachartikel widmen sich Dr. Annett Heft und Kilian Bühling der Frage, wie ihre Verbreitung gemessen werden kann. Dieser Beitrag fasst die Ergebnisse zusammen.
Verschwörungstheorien und ihre Verbreitung sind – gerade in Zeiten globaler und lokaler Krisenereignisse – ein viel diskutiertes Thema. Von explizit antisemitischen Weltverschwörungserzählungen bis hin zur mutmaßlichen Verschleierung eines Zusammenhangs des 5G-Mobilfunkstandards und der COVID-19-Pandemie werden Verschwörungstheorien diskutiert, verbreitet, geglaubt und widerlegt. Als zentraler Ort der Diskussion und Verbreitung verschwörungtheoretischer Erzählungen haben sich digitale Medien und Social-Media-Plattformen etabliert. Einen Grund für die Verlagerung der Diskussion in den digitalen Raum bildet das Wegfallen der Gatekeeper-Funktion traditioneller Massenmedien: Akteur:innen, deren Ziel es ist, das demokratische Zusammenleben zu untergraben, können sich im Internet ungefiltert an ihr Publikum wenden. Diese neuen Publikationsmöglichkeiten ermöglichen eine schnelle, weite und zielgerichtete Verbreitung verschwörungstheoretischer Inhalte.
Um analysieren zu können, welche Akteur:innen Verschwörungstheorien strategisch einsetzen und wie sie sich in digitalen Öffentlichkeiten ausbreiten, ist es nötig, die Diffusion von Verschwörungstheorien zu konzeptionalisieren. Daher wollten wir in unserer Literaturstudie herausfinden, wie dies in der vorliegenden Forschung geschieht und in empirischen Messungen umgesetzt wird. Zu diesem Zweck haben wir Publikationen über verschiedene computergestützte sozialwissenschaftliche Forschungsarbeiten analysiert, die sich mit der Verbreitung von Verschwörungstheorien beschäftigen. Dabei stellen wir heraus, wie das Phänomen mithilfe von Analysemethoden aus dem Bereich des Machine-Learnings und der Social-Network-Analyse großflächig untersucht werden kann. Unsere Ergebnisse stellen die verschiedenen Ansätze, die benutzt werden, um die Verbreitung von Verschwörungstheorien zu messen vor und diskutieren deren Stärken und Schwächen für eine übergreifende Analyse der Verbreitung von Verschwörungstheorien.
Der Ausgangspunkt der Messung
Die Verbreitungsprozesse von Verschwörungstheorien im digitalen Raum zu erforschen setzt zunächst einen Ansatzpunkt voraus, von dem aus die Verschwörungstheorien und ihre (Re-)Produzent:innen identifiziert werden können. Die Wahl des Ansatzes bestimmt die darauffolgende Datensammlung sowie die Analysemethoden maßgeblich. In der Literatur finden wir zwei Ansätze für die Identifikation von Verschwörungstheorien: Den akteursbasierten Ansatz und den themenbasierten Ansatz.
Der akteursbasierte Ansatz setzt voraus, dass bereits eine Gruppe von Akteur:innen bekannt ist, die Verschwörungstheorien verbreiten. Das können Webseiten sein, die von Fakten-Check-Portalen als verschwörungstheoretisch eingestuft wurden, oder Online-Communities, die sich programmatisch der Verbreitung und Diskussion von Verschwörungstheorien widmen. Die Datensammlung setzt dann an den Posts dieser Akteur:innen an, deren Inhalte von vornherein als verschwörungstheoretisch gelten und bei denen über den inhaltlichen Fokus (welche konkreten Verschwörungstheorien werden wie besprochen) keine Vorannahmen getroffen werden.
Interessieren sich Studien für die Verbreitung bestimmter Verschwörungstheorien, dann wird häufig der themenbasierte Identifikationsansatz gewählt, bei dem der Ausgangspunkt für die Bestimmung verschwörungstheoretischer Kommunikation inhaltsbezogen ist. In diesem Fall wird sämtliche Kommunikation einer oder mehrerer Plattformen nach Inhalten durchsucht, die für eine bestimmte Verschwörungstheorie als konstitutiv gelten. Das können beispielsweise bestimmte Hashtags oder Suchwörter sein. Dabei werden keine Vorannahmen über Akteur:innen getroffen, die Verschwörungstheorien verbreiten, denn das könnten alle User:innen sein. Dafür wird allerdings der thematische Rahmen von vornherein über die gewählten Suchwörter eingegrenzt.
Wie kann man Verbreitung messbar machen?
Ähnlich der Identifikation von verschwörungstheoretischen Inhalten kann auch deren Verbreitung mit einem inhaltsbasierten und einem referenzbasierten Ansatz gemessen werden. Bei beiden Methoden wird die Verbreitung entweder dynamisch als zeitlicher Diffusionsprozess untersucht oder es wird die gesamte Ausbreitung, also das Endprodukt der Diffusion, als statischer Querschnitt betrachtet.
Der referenzbasierte Ansatz zur Diffusionsmessung geht davon aus, dass die Verbreitung von Verschwörungstheorien gemessen werden kann, indem nachverfolgt wird, wer (und wie oft) gesichert verschwörungstheoretische Inhalte online teilt. So wird etwa ermittelt, wie häufig bestimmte Hyperlinks (oder auch Tweets oder Videos) auf Social-Media-Plattformen geteilt werden, die zuvor von verlässlichen Stellen als verschwörungstheoretisch klassifiziert wurden. Über Hyperlink- und User-Netzwerke wird es dann möglich die Verbreitungswege verschiedener Verschwörungstheorien nachzuzeichnen. Methoden der Social-Network-Analyse erlauben dabei die Messung der Prävalenz im Zeit-Querschnitt, während eine Aneinanderreihung verschiedener Netzwerkzustände im Zeitverlauf eine Längsschnittbetrachtung ermöglichen. Der Prozess der Informationsverbreitung, seine Explosivität und Viralität, auf der Ebene einzelner Posts wird in einigen Studien auch mithilfe der Kaskadenanalyse erforscht.
Beim themenbasierten Ansatz zur Diffusionsmessung wird das Auftreten von Verschwörungserzählungen nicht anhand spezifisch klassifizierter Referenzen gemessen, sondern durch das Auftreten von verschwörungstheoretischen Inhalten selbst. So können Verschwörungsthemen auch in großen Textkorpora mithilfe von Topic-Modeling-Verfahren identifiziert werden. Ebenfalls ist es möglich etwaige Themenveränderungen im Lebenszyklus der Verschwörungstheorie festzustellen, deren genauer Inhalt sich im Laufe der Zeit verändern kann. Die Menge der so identifizierten Verschwörungsinhalte kann sowohl statisch im Zeit-Querschnitt als auch dynamisch in ihrer Verbreitung untersucht werden. Weiterhin konnten wir in der Literatur verschiedene Anwendungsfälle finden, in denen Machine-Learning-Methoden eingesetzt wurden, um automatisiert Aufschluss darüber zu geben, wie sich im Zeitverlauf die narrativen Strukturen von Verschwörungstheorien verändern und unterscheiden. Shahsavari und Kollegen beobachten beispielsweise, wie auf der Plattform 4chan zunächst disparate Verschwörungstheorien zur Herkunft von COVID-19 zu einer übergreifenden Erzählung verstrickt werden.
Die übergreifende Natur der Verschwörungstheorie-Diffusion
Viele der von uns untersuchten Studien bilden Meilensteine, um die Diffusionsprozesse von Verschwörungstheorien zu verstehen. Dabei analysieren sie oft die Ausbreitung von einzelnen Verschwörungstheorien im Kontext spezifischer Social-Media-Plattformen oder Länder. Wie andere Forschungsaufsätze auch identifizieren wir in diesem Punkt einen Weg für zukünftige übergreifende Forschungsdesigns. Schließlich verbreiten sich Verschwörungstheorien in einem komplexen Netzwerk digitaler Teilöffentlichkeiten und werden nicht nur innerhalb, sondern auch über verschiedene Plattformen hinweg geteilt. Dabei überschreiten sie nicht nur die Grenzen digitaler Social-Media-Netzwerke, sondern überwinden ebenfalls große geografische Distanzen. Dem Forschungsobjekt ist daher ein plattform- sowie sprachübergreifender Ansatz methodisch angemessen.
Die verschiedenen thematischen Komponenten, aus denen sich Verschwörungstheorien zusammensetzen, sind zudem fluide. Systemische Verschwörungstheorien geben einzelnen Alternativerklärungen einen narrativen Rahmen, sie werden ausgebaut und ineinander verwoben. In der Realität tauchen Verschwörungstheorien deshalb selten im Singular auf. Diesen Verstrickungen und Abgrenzungen sollte mit einem themenübergreifenden Design Rechnung getragen werden.
Die Diffusion von Verschwörungstheorien ist zudem ein Prozess, der von konkreten Akteur:innen getragen wird. Akteursübergreifende Ansätze sind nötig, um zu verstehen welche zentralen Akteur:innen einen Verbreitungsprozess beschleunigen, in welcher Konstellation sie wirken, welche gesellschaftliche Rolle sie haben und ob sie überhaupt menschlich sind (und nicht etwa Social Bots).
In unserem Aufsatz werten wir deshalb aus, inwiefern die themen- und akteursbasierten Ansätze zur Diffusionsmessung geeignet sind, um übergreifende Forschungsdesigns zu bewerkstelligen. Diese Designs können in der Folge einen weiterreichenden Überblick darüber geben, wie sich Verschwörungstheorien im Netz verbreiten. Dadurch wird das Phänomen in seiner Gänze besser betrachtet und es können sinnvolle Handlungsempfehlungen und Konsequenzen für Plattformbetreiber:innen, Politik und Öffentlichkeit formuliert werden.
Die vollständige Studie, inklusive einer angehängten Liste der ausgewerteten Literatur, ist durch eine Open-Access-Veröffentlichung frei verfügbar. Sie ist unter dem Titel „Measuring the diffusion of conspiracy theories in digital information ecologies“ im Themenheft „Conspiracy Theories in Digital Environments“ der Fachzeitschrift Convergence erschienen und kann hier abgerufen werden.